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Wer keine Zeit für seine Gesundheit aufwendet,
wird eines Tages viel Zeit für seine Krankheiten aufwenden müssen

 
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Stern Gesund Leben Nr.05/2005



Übernahme des Textes

Sechs Brüche fürs Leben

Danke für die freundliche Genehmigung!

Mehrfach musste Lasse Kunhardt das Becken durchtrennt werden, damit er nicht lebenslang an seiner angeborenen Hüftdysplasie leiden muss. Viele Kinder kommen mit dieser Fehlstellung zur Welt. Wird sie nicht rechtzeitig erkannt, gibt es auch für sie oft keine Alternative zu der Tortur

Natürlich hat Lasse Kunhardt irgendwie auch Glück gehabt. Glück, dass er keine Schmerzen beim Gehen, Stehen oder Laufen hatte, dass er Fußball spielen konnte, sogar in der Landesliga als Verteidiger des VTL Jesteburg. Das Martyrium, das viele andere Menschen mit einer Hüfdysplasie erleiden müssen, blieb ihm erspart. Glück, dass er heute nach den Operationen keine Beschwerden hat und die Prognose, dass es so bleibt. Sogar großes Glück, dass er so schnell einen OP-Termin bekam, und das auch noch beim wohl weltbesten Operateur in diesem Metier; andere warten darauf bis zu fünf Jahre.

Eigentlich hatte Lasse Kunhardt aber vor allem eins: riesengroßes Pech. Hätte der Kinderarzt wenige Wochen nach seiner Geburt im April 1979 die Hüftdysplasie erkannt, dann wären ihm zwei schwere Operationen erspart geblieben, die ihn jeweils für Monate außer Gefecht setzten, verbunden mit großen Schmerzen und noch größeren Einschränkungen der Beweglichkeit.

Bei Babys ist eine Dysplasie nämlich in aller Regel leicht zu therapieren. Ein paar Monate in der Spreizhose - das wär's wohl gewesen. Wie bei Kunhardts älterem Bruder Kai, der richtig diagnostiziert und behandelt wurde. Umso unverständlicher, dass der Arzt Lasse nicht intensiver untersuchte, denn die Vermutung, dass Hüftdysplasie genetisch bedingt sein kann, gibt es schon lange.

Selten ist die Krankheit auch nicht. Tatsächlich ist es sogar die häufigste angeborene Skelettentwicklungsstörung. Je nach Region kommen in Deutschland zwei bis fünf Prozent der Neugeborenen damit zur Welt. Im Schnitt sind etwa 30 000 Babys pro Jahr betroffen, Mädchen fünf- bis siebenmal häufiger als Jungen. Noch mehr Pech für Lasse Kunhardt, dass ausgerechnet er dazugehörte.

Und so entsteht die Verformung: Während der Entwicklung des Hüftgelenks bildet sich ein Missverhältnis zwischen der Größe der Hüftpfanne und der des Hüftkopfes. Das Problem: Die Pfanne ist zu steil, häufig auch zu kurz, und dadurch wird der Hüftkopf zu wenig überdacht, vor allem zur Seite hin und nach vorn. Eigentlich überdacht und umfasst die Pfanne den Kopf des Oberschenkelknochens um etwas mehr als die Hälfte. Die Kontaktfläche zwischen Kopf und Pfanne ist beim Erwachsenen normalerweise etwa 15 Quadratzentimeter groß. Bei der Hüftdysplasie ist sie deutlich keiner. Die Folge: "Der Hüftkopf kann sich nicht richtig abstützen", erläutert der Spezialist Matthias Pothmann, leitender Oberarzt der Orthopädie am Marienhospital in Bottrop. "Dadurch steigt die Druckbelastung. Die Spätfolge ist frühzeitiger Verschleiß."

Die Ursachen sind noch nicht restlos geklärt. "Physiologisch liegt Dysplasie zunächst quasi bei jedem von uns vor" sagt Matthias Pothmann,,denn die Hüften reifen nach der Geburt nach, vor allem in den ersten Lebenswochen." Dass es bei manchen Babys nicht geschieht, kann genetisch bedingt sein. "Nicht selten ist eine Hüftdysplasie seit vielen Jahrzehnten in der Familie", berichtet Pothmann. "Bis in die 30er, 40er Jahre wurde ja in einigen Regionen Deutschlands oft innerhalb der Familie geheiratet. Wir vermuten, dass sich die Hüftdysplasie dadurch in manchen Familien verfestigen konnte und deshalb in einigen Regionen wie zum Beispiel dem Emsland regional gehäuft vorkommt."

Wichtig für die Entwicklung ist aber auch der Verlauf der Schwangerschaft: Vor allem in den letzten Wochen wird es für das Kind in der Gebärmutter sehr eng. Ist dann wenig Fruchtwasser da und das Kind kann sich nicht bewegen, kommt es häufiger zu einer Hüftdysplasie. "Auch Mehrlingsgeburten sind ein Risiko", sagt Pothmann, "und Frühgeburten, bei denen die Pfanne nicht nachgereift ist. Meistens wirken mehrere Faktoren zusammen."

Zur Diagnose braucht es ein Ultraschallgerät, geschulte Augen und etwa zwei Minuten Zeit - dann hat der Fachmann die mangelhaft ausgeformten Hüftgelenke erkannt. Die Hüftsonografie, wie sie im Ärztejargon heißt, wurde Anfang der 80er Jahre eingeführt und gehört seit 1996 zur "U3", der vorgeschriebenen Früherkennungsuntersuchung für Neugeborene in der vierten bis sechsten Lebenswoche. Babys mit erhöhtem Risiko - wegen einer Dysplasie-Häufung in der Familie, Geburt in Beckenendlage, Frühgeburt, Zwillinge - werden besser schon innerhalb der ersten Woche nach der Geburt untersucht.

So schnell die Diagnose vorliegen kann, so einfach ist in aller Regel auch die Therapie: Das Baby sollte in den ersten Lebensmonaten so oft wie möglich die Beine spreizen. Dann rutscht nämlich der Hüftkopf des Oberschenkels in die Mitte der Hüftpfanne. Je häufiger er das tut, desto besser können sich Dach und Rand der noch weichen und formbaren Gelenkpfanne ausbilden. In Kulturen, in denen Babys von der Mutter im Tuch am Körper getragen werden, ist die Hüftdysplasie so gut wie unbekannt. Aber auch eine Spreizhose oder eine Bügelschiene können helfen, in schwereren Fällen ein Gips oder - bei einer Auskugelung des Gelenks - eine Streckbehandlung im Krankenhaus: Der Hüftkopf wird dabei durch kontinuierlichen leichten Zug zurück in die Pfanne bewegt.

Je früher die Therapie beginnt und je konsequenter sie angewendet wird, desto besser schlägt sie an. Meist reicht bei leichten Fällen eine Behandlung von ein bis zwei Monaten, bei mitteschweren eine von bis zu neun Monaten. Das Problem, so Spezialist Pothmann; "Der Nachweis ist zwar gut möglich, aber die therapeutischen Konsequenzen werden nicht immer richtig umgesetzt." Er ist überzeugt: "Im Prinzip kann jede Art von Hüftdysplasie, auch eine Auskugelung, ohne Operation behandelt werden, wenn sie denn frühzeitig nach der Geburt erkannt und richtig therapiert wird. " Viele Kinder werden aber erst mit sechs, sieben oder acht Monaten zu ihm gebracht. "Da sagt dann der Arzt: ,Das wird schon wieder', und verschenkt wertvolle Zeit."

Je älter das Kind ist, desto schwieriger sind Diagnose und Therapie: Im ersten Lebensjahr wächst das Hüftgelenk besonders schnell und verknöchert dabei. Das erschwert nach dem achten bis zwölften Lebensmonat die Hüftsonografie, da Knochen Ultraschallwellen vollständig reflektieren. Also muss ab dieser Zeit meist geröntgt werden. Bei schweren Dysplasien ist es im Alter von 15 Monaten bis zwei Jahren zu spät für "konservative Maßnahmen", also Therapien ohne chirurgischen Eingriff. Von nun an führt diese Diagnose auf den Operationstisch. Ein oder mehrere Knochen müssen durchtrennt und neu zusammengesetzt werden, damit der Kopf des Oberschenkelknochens richtig in der Pfanne sitzt. (Zu den üblichen Operationsmethoden siehe Kasten auf S.41).

Doch weiter gilt: Je früher gehandelt wird, desto besser. Die Gelenkpfanne wird nämlich jeweils zu etwa einem Drittel aus Darmbein, Schambein und Sitzbein gebildet. Die drei Knochen bilden die Wachstums fugen der Pfanne, die so genannte Y-Fuge, die sich in der Regel zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr schließt. Je weiter sie geschlossen ist, desto geringer sind die Korrekturmöglichkeiten an der Hüftpfanne.

Ohne Zweifel ist eine solche Operation ein schwerwiegender, ja womöglich traumatischer Eingriff in das Leben eines Kindes - aber die Aussichten ohne den Eingriff sind einfach zu schlecht, um nicht zu handeln. Wenn nämlich Hüftpfanne und -kopf nicht richtig zueinander passen, verschleißt das Gelenk. Und das tut weh: Die meisten Patienten mit Hüftdysplasie, die zum Orthopäden gehen, klagen über Schmerzen im mittleren Leistendrittel, zeitweise auch über dem seitlichen Hüftgelenk. Der Schmerz tritt auf bei Belastung und gleichzeitiger Drehbewegung und nimmt bei längeren Wanderungen, vor allem im unebenen Gelände, oft zu. Auch das Liegen auf dem Bauch kann schmerzen. Bei etwa einem Drittel der Patienten ist außerdem ein leichtes Hinken zu bemerken, das sich bei längerem Gehen verstärkt.

"Als würde sich eine Eisenstange quer durch das Hüftgelenk bohren", so beschreibt eine Betroffene ihr Leid. "Mit 20 Jahren", schreibt eine andere, "begannen durch das viele Sitzen im Büro meine Beschwerden mit Schmerzen im Kreuz, die bis in die Kniekehlen hinunterzogen. Mit 35 Jahren hatten die Schmerzen so zugenommen, dass ich in der Küche nur noch auf dem Bürostuhl sitzend meine Arbeiten ausführen konnte."

Lasse Kunhardt blieb von Schmerzen weitgehend verschont. "Das Einzige, was ich merkte, war ein lautes Knacken in den Hüftgelenken, wenn ich im Sitzen die Beine spreizte", erzählt er. Ein spektakulärer Effekt in der Runde mit Freunden, aber kein Grund zur Beunruhigung, fand Kunhardt. Als er aber, mittlerweile 20, mit Beschwerden zum Arzt ging, die sich wie eine Leistenzerrung anfühlten, bekam er die Diagnose prompt. Der Rat des Orthopäden: möglichst schnell operieren - "und da brauchte ich dann doch erst mal einen Stuhl".

Wieder hat er Glück gehabt. Andere Dysplasie-Kranke laufen mit ihren Beschwerden von Arzt zu Arzt, bekommen Schmerzmittel verschrieben, werden zu Krankengymnastik angehalten oder, was nicht selten vorkommt, mit einer falschen Diagnose auf den Operationstisch geschickt, "Fünf bis zehn Prozent meiner Patienten", berichtet Matthias Pothmann, "wurden zuvor an einem Leistenbruch operiert, der keiner war."

So reiht sich für viele Betroffene eine Fehldiagnose an die nächste, die erste wenige Wochen nach der Geburt, die letzte bis sich der Betroffene nach mehreren Jahrzehnten die Knorpelschicht von Pfanne und Hüftkopf komplett weggeraspelt hat und das Gelenk nicht mehr zu retten ist. Dann bleibt nur noch die künstliche Hüfte. "Etwa 60 bis 70 Prozent der Hüftprothesen in Deutschland - implantiert wegen Verschleißes - werden aufgrund von Dysplasie vergeben", schätzt Pothmann. "Bei 160 000 bis 170000 Prothesen im Jahr ist das eine ganze Menge. Jede vermiedene Prothese und auch jedes vermiedene Leid der Patienten ist da ein Gewinn."

Besser also ist ein frühzeitiger Eingriff. Lasse Kunhardt wurde im Dezember 2000 das erste Mal operiert, ein Jahr nach der Diagnose. Bei vier verschiedenen Ärzten hatte er sich informiert und schließlich die Orthopädie der ' Städtischen Kliniken Dortmund ausgesucht. Sie hat international einen ausgezeichneten Ruf, weil Mitte der 70er Jahre Professor Dietrich Tönnis hier eine der wichtigsten Operationsmethoden bei Hüftdysplasie erfunden hatte: die "Dreifach- Beckenosteotomie".

Einer seiner Mitarbeiter damals: Klaus Kalchschmidt. Er entwickelte die Technik weiter und gilt heute als einer der weitbesten Operateure seines Metiers. Bei ihm kam auch Kunhardt unters Messer. Fast drei Stunden dauerte die Operation seiner linken Hüfte - mit ihr begann eine harte Zeit für den jungen Hamburger- Bei der Dreifach- Beckenosteotomie werden nämlich gleich drei Knochen durch trennt: das Darmbein, das Schambein und das Sitzbein. Nur auf diese Art kann der Operateur die Hüftpfanne so ausrichten, dass sie den Hüftkopf optimal umfasst, die Belastung besser aufnimmt und nicht vorzeitig verschleißt. Der Nachteil für den Operierten: Bis ein Gelenk, in das so massiv eingegriffen wird, wieder belastbar ist, vergeht viel Zeit.

Sechs Wochen durfte Lasse Kunhardt nur liegen oder stehen, auf keinen Fall aber sitzen, weil das operierte Gelenk nicht um mehr als 60 Grad gebeugt werden darf. Drei Monate durfte er das rechte Bein nicht belasten. Das hieß zum Beispiel: auf einem Bein stehend zu duschen. (sitzen war zu Anfang ja verboten), immer mit der Angst auszurutschen.

Aber die Heilung verlief gut. "Ich war voller Optimismus", erzählt Kunhardt, "und habe mir sogar, als ich noch an Krücken ging, ein Fahrrad gekauft" Eine Krankengymnastin brachte ihm das Gehen bei, und nach neun Monaten konnte er wieder joggen, langsam zwar, aber immerhin. Komplikationen gab es allerdings, als nach einem Jahr die Schrauben "entfernt wurden und sich die Wunden entzündeten. Heute, eineinhalb Jahre nach der zweiten Operation, ist dem 26-Jährigen, der mittlerweile eine Lehre als Verlagskaufmann abgeschlossen hat, die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. "Manchmal packt mich die Wehmut nach Fußball, aber ich will mein Schicksal nicht herausfordern. Ich habe wirklich gelernt, meine Gesundheit zu schätzen und das Leben zu genießen."

Die Chance, dass Kunhardt nicht wieder unters Messer muss und ohne künstliche Hüfte auskommt, ist gut. Wovon das abhangt, erläutert Matthias Pothmann, der sein Handwerk bei Klaus Kalchschmidt in Dortmund gelernt hat. Wenn ein junger Patient eine zu steile Pfanne hat, aber Hüftkopf und Pfanne gut zusammenpassen und nicht verschlissen sind, dann hat er gute Aussichten und wird später wahrscheinlich keine Prothese brauchen," Das ist mit Zahlen allerdings noch nicht zu belegen, weil die Technik heute eine andere ist als die vor 15 Jahren oder in den 70er Jahren. Es fehlen also Langzeitergebnisse.

Die Prognose hängt freilich auch davon ab, wie gut das Gelenk eingestellt wurde. Etwa zehn Prozent der Operationen, die Pothmann in Bottrop vornimmt, sind nämlich Korrektureingriffe von fehlgeschlagenen Operationen anderer Kliniken. "Häufig wurde die Pfanne zu weit geschwenkt oder der Knochen an der falschen Stelle durchtrennt. Die Beweglichkeit ist dann häufig eingeschränkt, der Patient kann zum Beispiel nicht mehr in die Knie gehen und leidet nach der Operation mehr als vorher. Einige Kollegen haben die Methode nur aus dem Lehrbuch gelernt, nicht dort, wo sie praktiziert wird. "Sie operieren offenbar gleichsam auf gut Glück.

Von Sven Rohde und Florian Jaenicke
Mitarbeit: Claudia Bahnsen
STERN GESUND LEBEN


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